Der Begriff Goldener Schnitt spielt immer dann eine Rolle, wenn es um das Thema Schönheit geht. Zum Beispiel die Schönheit beim Betrachten eines Gesichtes. Oder die Schönheit bei den Proportionen eines Autos oder eines Gebäudes. Wenn man beschreiben soll, was Schönheit ist, können wir das meistens nicht in Worten ausdrücken. Wahre Schönheit lässt sich nicht auf einige wenige Merkmale reduzieren. Daher hat man fast den Eindruck, dass es ein subjektives Empfinden ist, was jedem Menschen innewohnt.
Wenn der Begriff Schönheit etwas Einheitliches wäre, würden wir uns wahrscheinlich alle gleich anziehen, wir würden die gleichen Autos fahren, oder noch schlimmer, wir würden uns in den gleichen Typ Mann oder Frau verlieben. Es gibt nicht umsonst die Redewendung: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten.” Natürlich gibt es gewisse Vorlieben oder bestimmte Schönheitsideale. Aber was im Mittelalter als schön und ästhetisch empfunden wurde, mag heute nur noch wenige ansprechen.
Untersuchungen haben gezeigt, dass es oftmals ähnliche Empfindungen gibt für das, was wir als schön oder hässlich empfinden. Das zeigt sich besonders deutlich bei Gesichtern. Wir schauen als erstes dem Menschen ins Gesicht. In den ersten Sekunden entscheidet unser Unterbewusstsein, ob wir den Gesprächspartner als sympathisch oder unsympathisch betrachten. Meistens sind es wohlgeordnete Proportionen, die wir als schön empfinden. Gesichter mit Unregelmäßigkeiten empfinden wir dagegen eher als nicht schön. Alles, was eine ausgeprägte Symmetrie aufweist, wird als besonders schön empfunden.[1]
Auf den ersten Blick scheinen wir den Begriff Schönheit mit der Eigenschaft der Symmetrie zu verbinden. Vielleicht liegt es daran, dass wir in der Natur zahllosen symmetrischen Strukturen begegnen. Wir begegnen ihr bei der Form der Blätter, der Anordnung der Blüten, der Fellzeichnung der Tiere, den Schmetterlingsflügeln usw. Aber Symmetrie hat keine einheitliche Erscheinungsform. Es gibt zum Beispiel neben der Spiegelsymmetrie auch die Drehsymmetrie, oder die Kugelsymmetrie.
Bei genauer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass nichts genau symmetrisch ist. Wir idealisieren die Form und suchen unbewusst nach geometrischen Mustern. Wir verbinden mit Symmetrie Schönheit, weil sie für eine gewisse Harmonie steht. Egal ob es im Mikrokosmos oder im Makrokosmos ist, man kann ihr überall begegnen.
Symmetrie folgt demnach bestimmten geometrischen Gesetzen, die verblüffend präzise sind. Diese Gesetze scheinen auch in unserem Bewusstsein verankert zu sein. Doch obwohl wir wissen, dass sich beide Spiegelhälften nicht aufs Haar gleichen, empfinden wir das Gesamtbild als schön. Es ruft in uns ein gewisses Gefühl der Vollkommenheit hervor. Alles, was dagegen von der Norm abweicht, empfinden wir im ersten Moment als störend und unharmonisch. Bei genauerer Betrachtung stellen wir aber fest, dass ein Leberfleck auf einer Gesichtshälfte trotzdem einen gewissen Liebreiz ausübt. Erst wenn wir uns von der Oberflächlichkeit lösen, und die Individualität des Menschen erkennen, empfinden wir plötzlich das Andersartige als sympathisch und schön. Jemand sagte mal: „Schönheit ist quasi die augenfällige Symmetrie mit einer Pointierung der Asymmetrie.”
Man hält es kaum für möglich, aber das Prinzip der Ungleichheit spielt wie das Prinzip der Symmetrie eine fundamentale Rolle. Asymmetrie scheint ebenfalls ein übergeordnetes Entwicklungsmuster im Kosmos zu sein. Lange Zeit galt innerhalb der Physik die Symmetrie der Elementarteilchen als ein Grundprinzip. Dieses Standardmodell musste jedoch 1957 mit dem Nachweis asymmetrischer Verfallsprodukte von Kobalt 60 endgültig umgestürzt werden: In dem damaligen Experiment (Wu 1959) beobachtete man den Zerfall von Kobalt zu Nickel. Es entstanden entgegen der Vermutung mehr rechtshändige als linkshändige Elektronen.
Im Jahr 1999 wies schließlich ein internationales Wissenschaftlerteam
(KTeV Collaboration 1999) am Fermi National Accelerator Laboratory die sogenannte direkte
Oder nehmen wir unser Gehirn. Mittlerweile ist bekannt, dass die als funktionale Asymmetrie bezeichnete Gestaltung des menschlichen Gehirns Voraussetzung für die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten, Eignungen und Neigungen ist. Schon in einem frühen Stadium während der Embryonalentwicklung wird die ursprüngliche Symmetrie des Embryos durch asymmetrische Genaktivitäten gebrochen. Die unter anderem dadurch entstehende anatomische und vor allem funktionelle Ungleichheit der beiden Großhirnhemisphären ist der wesentliche Faktor für menschliche Intelligenz.[2]
Während die Symmetrie ein Ideal hinter den tatsächlichen Formen ist, ist die Asymmetrie etwas Reales. Wenn wir von Proportionen und ihrem Verhältnis sprechen, geht es im Wesentlichen um ein asymmetrisches Verhältnis von Teilen. In der Musik ist es das Verhältnis von Tönen, in der Malerei und Bildhauerei das Verhältnis von Proportionen. Weil gewisse Proportionen als besonders schön und harmonisch empfunden werden, spricht man deshalb auch vom Goldenen Schnitt.
Wenn man zum Beispiel eine Strecke in zwei unterschiedlich lange Teilstücke aufteilen möchte, gibt es unendlich viele asymmetrische Teilungsmöglichkeiten. Trotzdem gibt es nur „eine” Unterteilung, die für den Betrachter als ästhetisch empfunden wird.
In obigem Beispiel teilt man eine Strecke so in zwei Teile, dass sich anschließend der kleinere Teil (Minor) zum größeren Teil (Major) genauso verhält, wie der größere Teil wiederum zum Ganzen. Es handelt sich somit um eine Teilung, bei der immer ein Bezug auf das Nächstgrößere und somit schließlich auf das Ganze besteht. Gerade durch die Teilung wird der Bezug zum Ganzen herausgestellt. Auf diese Weise schafft es der Goldene Schnitt die Zerstörung der Strecke im Kontext zum Ganzen wieder zu vereinen.
Es gibt eine geometrische Form, die den Goldenen Schnitt in Perfektion widerspiegelt: Das Pentagramm. Nicht ohne Grund wurde ihm zu allen Zeiten eine magische Wirkung zugeschrieben.
Abb. Das Pentagramm und der Goldene Schnitt
Es ist also nicht mehr die Gleichheit der Teile, sondern die Gleichheit der Proportionen, die eine Faszination ausübt. Die Verhältnisse der Teile „Minor zu Major” und „Major zum Ganzen” sind immer gleich. Dadurch ist im Goldenen Schnitt das Verhältnis jetzt symmetrisch. Die Symmetrie der Teile wird vordergründig zu Gunsten der Symmetrie der Proportionen geopfert. Und dennoch findet sich selbst im Goldenen Schnitt die Symmetrie der Teile wieder.
Der Goldene Schnitt verbindet so auf beeindruckende Weise das Prinzip der Symmetrie mit dem der Asymmetrie. Diese Gesetzmäßigkeit hat man auch als „göttliche” Proportion bezeichnet. Sollte vielleicht doch eine göttliche Intelligenz hinter diesem Zusammenhang stehen?
Rechnet man das Verhältnis zwischen „Minor zu Major” aus, und „Major
wiederum zum Ganzen”, so ergibt sich daraus eine unendliche Zahl. Diese Zahl
Vor rund 160 Jahren beschäftigte sich der Mediziner Adolf Zeising mit den Maßen des menschlichen Körpers. Die Ergebnisse veröffentlichte er in seinem Lebenswerk Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers (1854). Wird zum Beispiel der untere Teil des menschlichen Körpers als „Major” und der obere als „Minor” angenommen, so verläuft die Trennungslinie beider Abschnitte in der Höhe des Bauchnabels. Bei der Teilung des Oberkörpers im Goldenen Schnitt stellt sich die Trennungslinie in Höhe des Kehlkopfes dar. Im Unterkörper fällt die Trennlinie nicht genau durch das Kniegelenk, sondern knapp unter der Kniescheibe. Hier gibt es eine optische Einbuchtung, ähnlich der Einbuchtung der Hüfte oder des Halses.
Zeising hat die Proportionen des Goldenen Schnittes bis ins kleinste Detail am
menschlichen Körper aufgezeigt. Die anatomische Genauigkeit dieses
Verhältnisses bei der Gliederung des Menschen ist äußerst beeindruckend.
So hat man auch bemerkt, dass die Breiten der ersten beiden oberen Schneidezähne im
Verhältnis
Der Goldene Schnitt zeigt sich jedoch nicht nur am menschlichen Körper. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts konnte er auch in zahlreichen Wachstumsmustern von Pflanzen und Tieren nachgewiesen werden. Dazu mehr im nächsten Kapitel.
Quellen
[1] Bates & Cleese 2001[2] Eckert & al. 2003
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