Streuvorgänge sind ganz wichtig zur Untersuchung von Strukturen im Mikrokosmos, also wenn es um die Strukturen von Atomen und Atomkernen geht. Oft kann man nur mithilfe von Streuexperimenten strukturelle Informationen über diese kleinen Systeme gewinnen. Hierzu schießt man Teilchen auf die jeweiligen Atomkerne.
Auf diese Weise hatte zum Beispiel Ernest Rutherfort im Jahre 1911 erstmals die Struktur eines Atoms und die Existenz eines Atomkerns nachweisen können. Dies konnte er durch Streuung von Alphateilchen an den Goldatomen einer Goldfolie beobachten. Und auch heute noch, wo man die Struktur verschiedener Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen mittels Hochenergieexperimenten untersucht, ist es gang und gäbe Streuexperimente durchzuführen. Im Bereich der klassischen Mechanik betrachtet man jeweils zwei Massenpunkte oder Teilchen.
Wesentlich dabei ist, dass diese zwei Massenpunkte nur in einem relativ begrenzten Bereich nennenswert miteinander wechselwirken. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn beide Teilchen im Begriff sind, miteinander zu kollidieren. Eines dieser beiden Teilchen wird also auf das andere einfallen. Das eine nennt man dementsprechend das „einfallende Teilchen” und das andere das „Target-Teilchen”.
Nur wenn sich beide Teilchen genügend nahe kommen, kommt es zu einer nennenswerten Wechselwirkungskraft und damit zu entsprechenden Beschleunigungen. Außerhalb des Wechselwirkungsbereiches bewegen sich die Teilchen mit konstanter Geschwindigkeit, vorausgesetzt es wirken keine anderen äußeren Kräfte.
Den Verbindungsvektor vom Target-Teilchen m₂ zum einfallenden Teilchen m₁ nennt man ₁ ₂. Das ist der Relativvektor, der die beiden Teilchen im Wechselwirkungsbereich jeweils verbindet.
Eine weitere wichtige Größe ist der sogenannte „Streuwinkel” ϑ₁. Hierbei betrachtet man nur den Winkel der Bewegungsrichtung des einfallenden Teilchens vor und nach dem Stoß. Der Streuwinkel beschreibt damit die Richtungsänderung des einfallenden Teilchens. Seine Richtungsänderung hat mit der Richtung des Target-Teilchens nicht unmittelbar etwas zu tun.
Um eine Unterscheidung zwischen dem einfallendem Teilchen und dem Target-Teilchen herauszustellen, wählt man spezielle Bezugssysteme. Letztlich betrachtet man ein und denselben Vorgang aus der Sicht unterschiedlicher Bezugssysteme.
Nan wählt dabei „Spezielle Bezugssysteme”, die es einem gestatten, Streuvorgänge möglichst einfach darzustellen. Eines dieser Bezugssysteme ist das Laborsystem. Das Laborsystem ist einfach dadurch festgelegt, dass sich das Target-Teilchen vor dem Stoß in Ruhe befindet. Daraus ergibt sich:
Außerhalb des Wechselwirkungsbereiches bewegen sich die Teilchen vor dem Stoß gleichförmig geradlinig. Damit ist das Laborsystem ein sogenanntes Inertialsystem.
Hinweis: Der Impuls eines Körpers hängt davon ab, in welchem Bezugssystem man ihn betrachtet. In dem einen Bezugssystem kann sich ein Körper in Ruhe befinden. Dann hat der Körper den Impuls gleich Null. Wenn man denselben Körper aber aus der Sicht eines bewegten Bezugssystems anschaut, dann wird sich der Körper relativ zum bewegten System ebenfalls bewegen und hat in diesem Fall einen Impuls. In jedem der gewählten Bezugssysteme wird der Impulserhaltungssatz jeweils für sich gelten. Denn die Impulse müssen vorher und nachher übereinstimmen. Aber wie groß die jeweiligen Impulse sind, hängt immer davon ab, was für ein Bezugssystem man wählt.
Wenn man nun obiges Laborsystem betrachtet, dann ist der Impuls des Target-Teilchens vor dem Stoß gleich Null. Bei Laborexperimenten ist es meistens so, dass sich das Target-Teilchen vor dem Stoß in Ruhe befindet, und daher keinen Impuls hat. Nach dem Stoß werden die Impulse beider Teilchen in Summe dem Impuls des ursprünglich einfallenden Teilchens entsprechen.
Im Laborsystem kann man auch den sogenannten Stoßparameter b definieren. Der Stoßparameter ist die Distanz, um die das einfallende Teilchen das Traget-Teilchen quasi verfehlt. Man könnte auch sagen, es ist der Normalabstand des Target-Teilchens zur Bewegungsgeraden des einfallenden Teilchens vor dem Stoß.
Eine weitere wichtige Größe ist die Bahn des Schwerpunktes. Wenn zum Beispiel die Massen der beiden Teilchen gleich groß sind, dann wird der Massenmittelpunkt immer beim halben Normalabstand zwischen den beiden Einzelmassen liegen. Zudem bewegt er sich gleichförmig geradlinig entsprechend dem Erhaltungssatz für den Massenmittelpunktimpuls. Vorausgesetzt natürlich, es wirken außerhalb des Wechselwirkungsbereiches keine weiteren äußeren Kräfte.
Den Verbindungsvektor vom Target-Teilchen zum einfallenden Teilchen nennt man auch hier wieder ₁ ₂.
Dieser Relativvektor verbindet nach wie vor das Target-Teilchen mit dem einfallenden Teilchen, und kippt während des Verlaufs der Bewegung um einen gewissen Winkel. Wenn beide Teilchen nach dem Stoß den Wechselwirkungsbereich verlassen haben, bleibt der Relativvektor in seiner neuen Ausrichtung. Und zwar solange, wie die beiden Teilchen mit konstanter Geschwindigkeit auseinanderstreben.
Die bisher betrachtete Darstellung ist allerdings nicht besonders günstig, weil sich beide Massenpunkte in Bewegung befinden. Günstiger wäre es, wenn man hierbei ein sogenanntes Zweikörperproblem betrachten könnte, und man sich als Beobachter in einem Bewegungszustand befindet, wo der Massenmittelpunkt in Ruhe ist. Um das zu erreichen, muss man wieder in ein anderes Bezugssystem transformieren.
Um zu erreichen, das der Massenmittelpunkt in Ruhe ist, transformiert man in ein anderes Bezugssystem, das sogenannte „Massenmittelpunktsystem”.
Der Massenmittelpunktort ist definiert als:
Diese Beziehung kennen wir bereits aus der Erhaltung des Massenmittelpunktimpulses.
Andererseits kann man auch definieren, wie sich dieser Massenmittelpunkt bewegen wird:
Hier setzt man allerdings voraus, dass im Massenmittelpunktsystem bzw. im Schwerpunktsystem gleich Null ist:
Was bedeutet das? In obigem Fall spielt der Nenner keine Rolle. Somit erhält man durch Umformen:
Das heißt, im Schwerpunktsystem wird es so sein, dass die Geschwindigkeit des einfallenden Teilchens und die Geschwindigkeit des Target-Teilchens immer parallel und zugleich entgegengesetzt zueinander sind. Denn sonst könnte auch der Massenmittelpunkt nicht in Ruhe verharren. Und weil in ein anders Bezugssystem transformiert wurde, ist das Target-Teilchen vor dem Stoß in diesem Fall nicht in Ruhe.
Wie sieht also jetzt dieselbe physikalische Situation aus Sicht des Schwerpunktsystems aus?
Nehmen wir an, das einfallende Teilchen kommt von links und das Target-Teilchen kommt von rechts aus entgegengesetzter Richtung. Auf der Hälfte des Normalabstandes gibt es eine gedachte Achse, und zwischen beiden Teilchen befindet sich an konstanter Position der Schwerpunkt. Nun kommen beide Teilchen aufeinander zu, und lenken sich im Wechselwirkungsbereich gegenseitig ab. Wesentlich bei der nachfolgenden Betrachtung ist, dass sich beide Teilchen nach dem Stoß wieder diametral, parallel und entgegengerichtet fortbewegen.
Hierbei „dreht” sich der Relativvektor ₁ ₂ während des Stoßes um einen gewissen Winkel herum. Über eine längere Distanz gesehen entspricht der Schwenkwinkel des Relativvektors auch dem Streuwinkel Θ im Schwerpunktsystem.
Bei der Gegenüberstellung kann man deutlich erkennen, dass der Streuwinkel in unterschiedlichen Bezugssystemen unterschiedliche Werte hat.
Θ ist der Winkel zwischen den Relativvektoren. Und die Relativvektoren verhalten sich unabhängig vom Bezugssystem. Das ist nichts anderes als der Verbindungsvektor von einem zum anderen Teilchen.
Damit gilt:
(₁ )s ist die Relativgeschwindigkeit relativ zum ruhenden Schwerpunkt.
Mit Bezug auf das Laborsystem bedeutet das:
Die Relativgeschwindigkeit muss in jedem System die gleiche sein. Daraus folgt:
Also, die einfallende Geschwindigkeit im Laborsystem ist gleich der einfallenden Geschwindigkeit im Schwerpunktsystem zuzüglich der Geschwindigkeit des Schwerpunktes. Das gilt insbesondere nach dem Stoß (₁" ).
Der Streuwinkel im Schwerpunktsystem ist immer ≥ dem Winkel im Laborsystem, weil das Target-Teilchen im Laborsystem ruht. Betrachtet man aber den gleichen Vorgang aus Sicht des Schwerpunktsystem, bewegen sich die Teilchen bereits verlangsamt, und wenn ihnen dann noch etwas entgegen fliegt, werden sie stärker abgelenkt und damit ist der Streuwinkel Θ immer ≥ gegenüber dem Streuwinkel ϑ₁ .
Damit erhält man als Ergebnis für elastische Stöße:
So lässt sich der Zusammenhang zwischen den Streuwinkeln darstellen. Man nennt dies auch die „Transformationsformel für Streuwinkel”.
Es kommt bei dem Zusammenspiel wesentlich auf das Verhältnis zwischen den beiden Massen m₁ und m₂ an.
Wenn das Target-Teilchen eine viel größere Masse hätte als das einfallende Teilchen, dann stimmen beide Bezugssysteme inhaltlich überein. Wenn die Massen dagegen gleich sind, kommt man nur auf einen maximalen Streuwinkel von 90°.
Jetzt kann man noch einen Schritt weiter gehen, um von einen Zweikörpersystem auf ein Einkörpersystem mit reduzierter Masse überzugehen. Denn jedes Zweikörpersystem lässt sich formal zurückführen auf die Dynamik eines Einkörperproblems. Hierbei bewegt sich eine reduzierte Masse im Feld der Wechselwirkungskräfte, und der Ortsvektor dieser reduzierten Masse ist dann, übertragen auf die Streuvorgänge, der Relativvektor.
Die reduzierte Masse hatten wir ja bereits definiert als:
Die Idee ist, dass man den Streuvorgang in eine Bewegung einer reduzierten Masse μ übersetzt, die sich in dem Feld der Wechselwirkungskräfte bewegt. Wobei die Wechselwirkungskräfte meistens konservative Kräfte sind, also keine Reibungskräfte. Man hat es vielmehr mit Kräften zu tun, die sich als Gradienten eines Potentials darstellen lassen. Daher spricht man auch in einem solchen Fall von Potentialstreuung.
Der konkrete Verlauf eines solchen Streuvorgangs hängt ganz wesentlich davon ab, was für ein Potential der Wechselwirkung zwischen den beiden Teilchen vorhanden ist. Und in der Übersetzung des reduzierten Einkörperproblems lässt sich dieses Potential visualisieren in Form eines Potentialgebirges.
Das reduzierte Einkörperproblem funktioniert so, dass man nur noch eine einzige Masse μ betrachtet, in der die beiden Einzelmassen enthalten sind. Und diese reduzierte Masse bewegt sich im Feld der Wechselwirkungskraft, dargestellt durch ein solches Potentialgebirge. Daher rührt auch der Begriff „Potentialstreuung”, wobei der Ortsvektor zugleich der Relativvektor ist. Dieses reduzierte Einkörperproblem muss dann, wenn man das realistisch umsetzten möchte, in den konkreten wirklichen Vorgang rückübersetzt werden. Dabei berücksichtigt man, wie das Massenverhältnis der beiden Teilchen ist. Der Streuwinkel bei der reduzierten Masse ist gleich dem Streuwinkel des Massenmittelpunkts, also im Schwerpunktsystem.
Wenn man dann aber auf die Laborbedingungen Rückschlüsse ziehen will, um die Dinge konkret mit einem experimentellen Befund vergleichen zu können, muss man diesen Streuwinkel zurück übersetzen in den allgemein kleineren Streuwinkel im Laborsystem. Dann erhält man etwas, was wirklich mit dem Experiment verglichen werden kann. Und es hängt letztlich davon ab, ob das Ganze zusammenpasst. Wenn es stimmig ist, dann ist das ein starkes Indiz dafür, dass das gewählte Potenzial den konkreten Bedingungen annähernd entspricht.
Auf die Art und Weise kann man durch so ein Streuexperiment in einer indirekten Weise auf die Verhältnisse in dem unmittelbaren Streubereich Rückschlüsse ziehen. Der jeweilige Streuwinkel hängt sowohl von den Stoßparametern als auch von der Energie des einfallenden Teilchens ab. Aus diesen Parametern lässt sich eine Ablenkfunktion herleiten.
Man geht davon aus, dass es in der Umgebung eines kleinen massiven Atomkerns ein Wechselwirkungspotential gibt. Und zwar elektrische Punktladungen, die einander abstoßen.
Die Ablenkfunktion ist definiert als:
Z ist die Kernladungszahl
e ist die Elementarladung (eines Elektrons o. Protons)
ε ist ein Theoriefaktor in der Elektrodynamik
E ist die Teilchenenergie des einfallenden Teilchens
b ist der Stoßparameter
Und nachdem man diese Ablenkfunktion auch gut experimentell überprüfen konnte, hält man bis heute an dem Rutherfordschen Atommodell fest.
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